Weg im Nebel

Finde heraus, was die Bedürfnisse deines Kindes hinter seinen Wünschen und Forderungen sind. Darum geht es im Alltag

– nicht darum, ihm Wünsche zu erfüllen, sondern seine und deine eigenen Bedürfnisse wichtig zu nehmen.

 

Wer ein Kind bedürfnisorientiert erzieht, braucht seine vollen Kräfte über einen langen Zeitraum. Das schafft nur, wer seine eigenen Bedürfnisse kennt und sie befriedigen kann.

Dann gilt es, herauszufinden, was die Bedürfnisse des Kindes hinter seinen Wünschen und Forderungen sind. Darum geht es im Alltag – nicht darum, ihm Wünsche zu erfüllen, sondern seine und deine eigenen Bedürfnisse gleich wichtig zu nehmen.

Wer sein Kind bedürfnisorientiert erziehen will, setzt sich deshalb mit Vorteil mit dem Unterschied zwischen Wünschen und Bedürfnissen auseinander um sie auseinanderhalten zu können. Denn bedürfnisorientiert heisst, wir sollen auf die Bedürfnisse des Kindes eingehen statt seine Wünsche erfüllen.

Ein Wunsch ist kein Bedürfnis

Kinder äussern Wünsche sehr häufig und direkt: «Ich will (nicht) xxxx haben, tun! Und zwar sofort und jetzt!»

Wenn Erwachsene den Wunsch nicht gut finden und ihn nicht erfüllen wollen, eskaliert die Situation. Erst wenn wir das Bedürfnis hinter diesen und den eigenen Wünschen erkennen, können wir darauf eingehen und ihnen zu entsprechen versuchen – das ist bedürfnisorientierte Erziehung.

Ein Beispiel:

«Ich will jetzt Schokolade!» «Und ich bin am Kochen, es gibt bald Mittagessen, ich will dir jetzt keine Schokolade geben. Ich will, dass du beim Mittagessen dann richtig isst.» Die Wünsche liegen offen zutage. Das Kind brüllt los, stört beim Kochen. Die erwachsene Person ist genervt, will jetzt einfach nur in Ruhe kochen. Wer setzt seinen Willen durch? Wer entscheidet den Machtkampf für sich?

Schauen wir stattdessen auf die Bedürfnisse. Die Bedürfnisse der erwachsenen Person sind vermutlich: ‹Gut für das Kind zu sorgen sowie ihre Arbeit (das Kochen) selbstständig und ohne gestört zu werden, auszuführen.›

Die Bedürfnisse des Kindes sind in diesem Falle nicht so eindeutig. Denn sie hängen stark von der aktuellen Befindlichkeit, dem Alter und dem Charakter des Kindes ab.

Wer würde vernünftigerweise einem Neugeborenen primär ein Bedürfnis nach selbstbestimmten Handeln erfüllen wollen? Oder bei einem Vierjährigen primär ein Bedürfnis nach Spiritualität oder Sinngebung interpretieren? Welcher Teenie aber wollte primär sein (grad nicht vorhandenes) Bedürfnis nach Schutz vor Gefahren erfüllt sehen?

 

Die wesentlichen sieben Bedürfnisse

Hier finden Sie die menschlichen Bedürfnisse à la Rusa Meyer. Kurz zusammengefasst handelt es sich um sieben Bedürfnisse, die alle Menschen haben.

  1. Bedürfnis nach Selbsterhaltung
  2. Bedürfnis nach Sicherheit
  3. Bedürfnis nach Erholung
  4. Bedürfnis nach Freiheit
  5. Bedürfnis nach Verbundenheit
  6. Bedürfnis danach, wertvoll zu sein
  7. Bedürfnis danach, geliebt zu werden

Wesentliche Bedürfnisse nach Alter

Die Dringlichkeit und die spezifische Ausprägung dieser sieben Bedürfnisse verändert sich im Kindesalter. Wir kennen z.B. das Trotzalter, wo das Bedürfnis nach Freiheit (im Sinne von Selbstwirksamkeit) sehr stark im Vordergrund steht, alle anderen Bedürfnisse sind aber auch da und wollen befriedigt werden, was uns Erwachsenen zu eierlegenden Wollmilchsäuen macht bzw. in unendliche Widersprüche verwickelt. Gar nicht zu reden von den eigenen Bedürfnissen, die wir Erwachsenen (und andere anwesende Personen) ja auch noch haben. Oder wir kennen die Pubertät, wo das Bedürfnis nach Anerkennung durch Gleichaltrige so gross ist, dass andere Bedürfnisse (wie z.B. Struktur, Regeln oder Sicherheit) weit in den Hintergrund treten und alle Ermahnungen, doch bitte vorsichtig zu sein, mit Unverständnis oder gar Ablehnung quittiert werden.

Ich versuche im Folgenden, kurz zu fassen, was meiner Meinung nach je nach Alter im Vordergrund steht. Vielleicht hilft das einigen Erziehenden, die Wünsche des Kindes besser einordnen zu können. Wenn man z.B. hinter dem Wunsch nach Schokolade den Hunger sieht, wird man der oben geschilderten Situation anders begegnen als wenn man dahinter das Bedürfnis nach mithelfen und damit Anerkennung sieht oder noch anders, wenn man dahinter das Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit und sieht.

Baby

Ein Baby hat das Bedürfnis nach physischer Sicherheit, Essen, Schlaf, Empathie und Körperkontakt. Es ist vollständig abhängig davon, dass andere diese seine Grundbedürfnisse stillen. Sind sie befriedigt, möchte das Baby ungestört seine Umgebung erkunden – schauen, greifen, lutschen, hören, den eigenen Körper erforschen und einsetzen, um den Bewegungsradius zu erweitern.

Einjährig

Ein Einjähriges hat das Bedürfnis nach physischer Sicherheit, Essen, Schlaf, Empathie und Körperkontakt. Es möchte ungestört seine Umgebung erkunden – schauen, greifen, lutschen, hören, den eigenen Körper erforschen und einsetzen, um den Bewegungsradius auch nach oben zu erweitern und laufen zu lernen. Es möchte Resonanz und Anerkennung. Es hat kein Bedürfnis danach, über die Art und Weise, wie seine Bedürfnis befriedigt werden, zu diskutieren.

Zweijährig

Ein Zweijähriges hat das Bedürfnis nach physischer Sicherheit, Essen, Schlaf, Empathie und Körperkontakt. Es möchte ungestört seine Umgebung erkunden – schauen, greifen, lutschen, hören, den eigenen Körper erforschen und einsetzen, um den Bewegungsradius weiter zu erweitern und schwierigeres Gelände zu erkunden. Es möchte Resonanz und Anerkennung und möchte seine Selbstwirksamkeit zu erforschen.

Es hat kein Bedürfnis danach, über die Art und Weise, wie seine Bedürfnis befriedigt werden, zu diskutieren sondern es probiert seine Selbstwirksamkeit aus, indem es gewisse Dinge nicht will und andere unbedingt. Im Falle der Schokoladen-Szene beim Kochen bedeutet das, dass es wichtig ist, einen Machtkampf zu vermeiden. Das Kind soll seinen Wunsch äussern dürfen, es soll dafür Verständnis erhalten (Resonanz und Anerkennung), und vielleicht kann es ja ein bisschen vom Nachtisch naschen oder etwas rohes Gemüse knabbern.

Vierjährig

Ein Vierjähriges hat das Bedürfnis nach physischer Sicherheit, Essen, Schlaf, Empathie und Körperkontakt. Es möchte ungestört seine Umgebung erkunden – schauen, greifen, lutschen, hören, den eigenen Körper erforschen und beherrschen lernen. Es möchte Resonanz und Anerkennung und möchte seine Selbstwirksamkeit weiter ausbauen. Es hat das Bedürfnis, mit anderen Lebewesen in Kontakt zu treten plus zu experimentieren (spielen) und dasselbe zu machen wie die Grossen. Es will mitbestimmen, es kann aber noch nicht abschätzen, was richtig und wichtig ist für es.

Im Falle der Schokoladen-Szene beim Kochen bedeutet das, dass das Kind seinen Wunsch äussern darf, dass es dafür Resonanz erhält, und vielleicht kann es ja etwas mithelfen oder selber machen. Es kann auch bereits verstehen, dass es halt warten muss bis zum Dessert.

Achtjährig

Ein Achtjähriges hat das Bedürfnis nach physischer Sicherheit, Essen, Schlaf, Körperkontakt, seinen Körper erforschen und beherrschen zu lernen, seine Selbstwirksamkeit zu erforschen und mit anderen Lebewesen in Kontakt zu treten, zu experimentieren (spielen) und dasselbe zu machen wie die Grossen plus seine eigene Intimsphäre zu haben und soziale Beziehungen zu erforschen. Es möchte Freundschaften ausprobieren und ausserhalb der Familie Erfahrungen machen. Es möchte selbst Dinge herstellen (basteln), ausprobieren (experimentieren) und sein Wissen erweitern. Es hilft gerne mit und macht mit, um Anerkennung und Wertschätzung zu erfahren.

Im Falle der Schokoladen-Szene beim Kochen bedeutet das, dass das Kind seinen Wunsch äussern darf, dass es dafür Resonanz erhält, und dass es aufgefordert wird, mit dem Schokoladewunsch bis zum Dessert zu warten. Wenn es statt Schokolade die Möglichkeit erhält, das Essen schön anzurichten oder den Tisch zu schmücken oder zur Ablenkung (! der Wunsch wird nicht negiert, sondern eine Hilfe angeboten, mit der Lust auf Süsses umzugehen) noch etwas zu spielen, wird es vermutlich auch zufrieden sein.

Zwölfjährig

Ein Zwölfjähriges hat das Bedürfnis selbst über physische Sicherheit, Essen, Schlaf, Körperkontakt und seinen Körper zu entscheiden, selbstständig zu handeln in Interaktion mit Anderen und seiner Umwelt, gemäss seinen Interessen zu experimentieren (spielen), kritisch das Erwachsenenverhalten zu hinterfragen, seine eigene Intimsphäre zu haben und freundschaftliche und verwandtschaftliche Beziehungen selbst zu gestalten. Es möchte das Wohlwollen seiner Bezugspersonen zu spüren trotz Abnabelungstendenzen und Provokationen. Es möchte Verantwortung übernehmen und gebraucht werden.

Sechzehnjährig

Ein Sechzehnjähriges Kind ist kein Kind mehr. Mensch hat das Bedürfnis selbst über physische Sicherheit, Essen, Schlaf, Körperkontakt und seinen Körper zu entscheiden, selbstständig zu handeln in Interaktion mit Anderen und seiner Umwelt, gemäss eigenen Interessen zu experimentieren (spielen), kritisch das eigene und das Verhalten anderer zu hinterfragen, die eigene Intimsphäre zu schützen und freundschaftliche und verwandtschaftliche Beziehungen selbst zu gestalten. Mensch möchte durch andere Menschen auf Augenhöhe und freundschaftlich auf der Suche nach der eigenen Identität begleitet werden. Mensch möchte Sinn und eine Aufgabe finden, Verantwortung tragen, sich authentisch ausdrücken können und seine eigene Sexualität leben.

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Hier finden Sie die Bedürfnisse à la Rusa Meyer. Wie immer zusammengeklaut und zusammengebaut; dieses Mal Zutaten aus wikipedia, Maslow, Schulz von Thun und Rosenberg.

Bedürfnisse aller Menschen

Bedürfnis nach Selbsterhaltung oder physischer Existenz

  • Atmung (saubere Luft)
  • Wärme (Kleidung)
  • Trinken und Essen
  • Schlaf (Ruhe und Entspannung)
  • Sexualität

Bedürfnis nach Sicherheit

  • Unterkunft/Wohnung
  • Körperliche Unversehrtheit,
  • körperliche und psychische Integrität
  • Schutz vor Gefahren
  • Ordnung, Gesetze, Strukturen
  • Kontinuität, Rituale

Bedürfnis nach Erholung

  • Zeit selbstbestimmt verbringen
  • auftanken: geistig und körperlich, alleine und mit anderen
  • zweckfreies Tun, spielen, feiern

 Bedürfnis nach Freiheit

  • Autonomie, Selbstbestimmung
  • sich ausdrücken, schöpferisches Tun, Kreativität
  • Individualität

Bedürfnis nach Verbundenheit

  • Kontakt, Freundschaft, Zugehörigkeit
  • Respekt, Akzeptanz
  • Unterstützung

Bedürfnis danach, wertvoll zu sein

  • Würde
  • gebraucht werden
  • Verantwortung übernehmen
  • Anerkennung, Resonanz
  • Spiritualität, Sinn

Bedürfnis danach, geliebt zu werden

  • Empathie, Verständnis
  • Wertschätzung
  • Nähe, Liebe
  • Geborgenheit